Ein Vierteljahrhundert ist seit dem Höhepunkt der HIV/AIDS-Epidemie in der Welt vergangen. Wie hat sich der Alltag der Infizierten in dieser Zeit verändert? Ist es immer noch stigmatisiert, HIV-positiv zu sein? Wir sprechen mit Irena Przepiórka, zertifizierte HIV/AIDS-Beraterin und Präsidentin des Vereins „Be with us“, über das Zusammenleben mit einer HIV-positiven Person am Arbeitsplatz, zu Hause und in der Gesellschaft.

Die DiagnoseHIVerscheint vielen von uns noch immer wie eine ferne Fiktion. Tatsache ist, dass die Zahl der HIV-Fälle seit über einem Dutzend Jahren abnimmt, und die Weltgesundheitsorganisation hat angekündigt, dass die Epidemie bis 2030 gestoppt werden soll. Das Virus ist jedoch immer noch gefährlich und es gibt immer mehr Infizierte. Ein riskantes Verh alten genügt und das HIV-Problem kann uns selbst, unsere Lieben, Freunde oder Partner betreffen.

Wir sprechen mit Irena Przepiórka, Diplom-Pädagogin und HIV/AIDS-Beraterin, über die Auswirkungen einer HIV-Diagnose und den Alltag mit einer HIV-positiven Person.

  • In den 1980er und 1990er Jahren g alt die HIV-Diagnose als Satz. Menschen, die ihre Krankheit zugeben, wurden diskriminiert und als potenzielle Infektionsquelle behandelt. Es machte es ihnen schwer, eine feste Anstellung zu finden, eine Familie zu gründen und Freunde zu finden. Wie hat sich die Einstellung der polnischen Gesellschaft gegenüber HIV-positiven Menschen in den letzten Jahren verändert? Werden sie immer noch diskriminiert?

Irena Przepiórka:Die Situation der Infizierten hat sich im Laufe der Jahre verbessert, aber die HIV-Infektion ist immer noch ein Grund für Diskriminierung. Es gibt immer noch sehr starke Klischees, die dazu führen, dass diese Krankheit eine sehr schlechte Meinung hat. In den 1980er und 1990er Jahren schürten Infizierte Angst, die auch von moralischem Urteilsvermögen und Unwissen getrieben wurde. Derzeit wissen wir mehr über die Infektion, Informationen über infizierte Personen des öffentlichen Lebens (z. B. Charlie Sheen) sind weit verbreitet und die Akzeptanz für HIV-Positive ist deutlich höher. Mit HIV infizierte Menschen werden jedoch ständig diskriminiert, und die Tatsache, dass sie infiziert sind, beeinträchtigt ihre täglichen Beziehungen zu anderen Menschen. In der Erhebung 2015 zur Lebensqualität von Frauen mit HIV, durchgeführt vom Verein „Bleib bei uns“, wird deutlich, dass infizierte Frauen ihre Infektion meist nur den engsten Familienmitgliedern (Mutter und Lebenspartner) melden. Das Vertrauen in andere Menschen wächst mit der ZeitInfektion und nimmt mit dem Alter ab.

HIV-Test - was ist das?

  • Warum passiert das?

I.P.:Unmittelbar nach der Diagnose dominieren Angst und viele negative Emotionen. Erschwerend kommt hinzu, dass eine neu diagnostizierte Person oft noch stereotype Gedanken hat und sich Sorgen darüber macht, was andere sagen könnten. Die HIV-Infektion wird nicht medizinisch gesehen, sondern im Sinne von "Verbrechen und Strafen": "X hat HIV, das heißt, er muss etwas falsch gemacht haben, also ist er selbst schuld." Es folgt ein gewisses Paradoxon und die Infizierten stigmatisieren sich zunächst selbst. Nach einiger Zeit, wenn sie Zeit haben, diese Überzeugungen selbst zu überprüfen und zu lernen, mit HIV zu leben, neigen sie dazu, offener zu sein.

Das Leben einer infizierten Person ist jedoch nicht einfach. Ich kenne nur wenige Menschen, die offen über ihre Infektion sprechen, aber es sind Menschen aus dem Kreis der Sozialaktivisten, die eine bestimmte Mission erfüllen und damit bereit sind, „aus dem Schrank zu kommen“. Der durchschnittliche Infizierte informiert weder Arbeitskollegen noch einfache Bekannte. So erlebt er oft wahllose Witze, zum Beispiel: „Nimm einen Schluck, ich habe kein HIV“. Er macht sich Sorgen um seine Anstellung und lässt sich erneut von einem Krankenhaus für Infektionskrankheiten krankschreiben. Er empfindet Verlegenheit und Scham, wenn er stereotype, schädliche Meinungen hört. Sie ist traurig, als eine gute Freundin, die ein Baby bekommen hat, sich umdreht und sie plötzlich nicht mehr nach Hause einlädt. Er empfindet Wut und Demütigung, wenn der Zahnarzt behauptet, er sei nicht in der Lage, ein bestimmtes Verfahren durchzuführen.

Es ist auch erwähnenswert, dass es schwierig ist, von einer einheitlichen Situation von Menschen mit HIV in Polen zu sprechen. In Großstädten sieht es ganz anders aus als im Rest des Landes. Infizierte Menschen, die in Kleinstädten leben, haben eine viel schwierigere Situation. Anders sieht es auch bei Menschen aus, die aufgrund einer Infektion gesundheitliche Probleme bekommen. Oft sind sie mit einer Behinderung oder schwerwiegenden Problemen völlig allein gelassen, ohne Existenzgrundlage und ohne einen lieben Menschen, dem sie offen von ihrem Wohlergehen erzählen können, ohne die Tatsache der Ansteckung zu verheimlichen.

  • Wir erfahren, dass unser Partner, nahes Familienmitglied oder Freund mit HIV infiziert ist … Wie soll man in einer solchen Situation reagieren?

I.P .:Entscheidend ist hier die Art der Beziehung, die wir zu einer infizierten Person haben. Erst wenn unser Sexualpartner von der Infektion erfährt, bedarf es einer besonderen Reaktion. Dann müssen wir uns neben der Pflege unseres Partners auch um uns selbst kümmern und einen HIV-Test durchführen lassen. Die angemessene Reaktion auf die Information, dass ein geliebter Mensch HIV-positiv ist, ist unterstützend, voller Verständnis und Mitgefühl, aber auchsignalisiert, dass die Infektion nicht das Ende der Welt bedeutet. Im Verein „Sei mit uns“ haben wir oft Kontakt zu Menschen, deren Angehörige ihnen von ihrer Infektion erzählt haben und nicht wissen, wie sie reagieren sollen. Wenn jemand nichts über HIV weiß und Angst hat, lohnt es sich, Informationen zu suchen, zum Beispiel bei der AIDS-Hotline oder bei verschiedenen Nichtregierungsorganisationen. Eine infizierte Person ist besonders besorgt über das Verständnis ihrer Angehörigen für ihr Problem, daher ist es wichtig, offen über ihre Gefühle zu sprechen, auch wenn sie schwierig sind. Authentisch zu sein und Unwissenheit oder gar Angst einzugestehen, ist für einen Infizierten akzeptabler als künstliche Akzeptanz und anschließende Kontaktvermeidung.

Wenn wir also Angst haben und nicht wissen, wie wir reagieren sollen, schlage ich vor, dass Sie sagen, dass es auch für uns ein schwieriges Thema ist, und dann Ihr Wissen über HIV selbst erweitern. Sich verlässliche Kenntnisse auf diesem Gebiet anzueignen, reduziert die Angst – harte wissenschaftliche Daten sprechen eindeutig dafür, dass bei alltäglichen Kontakten mit Infizierten auch nur das geringste Risiko besteht. Wenn jemand lernt, sich mit dem Virus zu infizieren, wird er keine Angst vor Gesellschaft, Zusammenarbeit, Spielen oder sogar dem Zusammenleben mit einer infizierten Person haben.

  • Und wenn wir herausfinden, dass wir mit HIV infiziert sind – wie können wir diese Information an unsere Lieben weitergeben? Sind wir verpflichtet, jemanden darüber zu informieren?

I.P .:Gesetzliche Meldepflicht bei Ansteckung gilt nur für Sexualpartner. Die Information aller anderen ist jedoch eine individuelle Angelegenheit. Oft möchten Menschen mit einer HIV-Diagnose ihr Umfeld darüber informieren. Wir bitten immer darum, eine solche Entscheidung sorgfältig abzuwägen und die informierte Person angemessen „vorzubereiten“. Worum geht es? Einerseits lohnt es sich, unter dem Vorwand, einen Film anzusehen oder einen Artikel zu lesen, Informationen über die HIV-Infektion bereitzustellen. Andererseits lohnt es sich, die Einstellung dieser Person gegenüber HIV-positiven Menschen zu untersuchen. Es kann sich herausstellen, dass sie für solche Informationen noch nicht bereit ist und dann sollte man besser darauf verzichten. Es ist oft so, dass Informationen über HIV eine Bekanntschaft, Freundschaft und sogar eine Beziehung bestätigen. Dies sind sehr schwierige Situationen und jede erfordert eine separate Analyse.

  • Die Nachricht von der Krankheit Ihres Partners ist besonders schmerzhaft und schwer zu akzeptieren. Wie wirkt sich die HIV-Diagnose auf eine Beziehung aus, in der eine Person HIV-positiv ist? Welche Veränderungen müssen Partner in ihrem Alltag vornehmen?

I.P .:Wie bei den vorherigen Fragen muss ich hier betonen, dass nicht alle Themen im Zusammenhang mit HIV und Beziehungen eindeutig sind. Anders sieht es in einer festen Beziehung aus, in der manes gab eine Infektion von seinen Partnern. Oft gibt es neben dem Problem der Ansteckung auch das Problem des Verrats, der Gefährdung der Gesundheit eines anderen oder sogar der Übertragung der Ansteckung auf einen geliebten Menschen. Nicht immer ist die Beziehung in der Lage, eine solche Prüfung zu überstehen. Eine andere Situation liegt vor, wenn eine seronegative Person mit einer seropositiven Person assoziiert ist. Dann ist das Dilemma, wann und wie man über die Infektion informiert.

Beziehungen, die das Leben mit HIV erleben, sind oft reifer. Es erfordert viel Reife, sich mit der Krankheit eines geliebten Menschen und seinen Folgen auseinanderzusetzen. Und die Folgen betreffen vor allem den sehr intimen Bereich, betreffen aber auch die Beziehung des Paares zu Familie und Freunden. Sex ist nicht mehr ganz spontan. Es wird zwingend erforderlich, ein Kondom zu verwenden, sicherere Sexu altechniken anzuwenden oder die Viruslast zu kontrollieren. Das Paar operiert oft mit einem „Geheimnis“. Du kannst der Schwiegermutter nicht sagen, warum du nochmal ins Krankenhaus gehst oder in welches. Bevor die Freunde der Frau kommen, müssen Sie die Medikamente verstecken, die normalerweise auf dem Badezimmerregal stehen. Tausende Kleinigkeiten, die den Alltag beeinflussen. Aber das schwierigste Thema ist die Erziehung.

  • Was ist das Thema Kinderwunsch zwischen Plus/Minus- (HIV-Infizierter und Gesunder) und Plus/Plus-Paaren? Wie hoch ist das Risiko einer Übertragung der Krankheit auf das Kind?

I.P .:Heutzutage hat der medizinische Fortschritt das Risiko der Übertragung einer Infektion auf ein Kind fast vollständig beseitigt. Wenn eine Frau infiziert ist, hat sie Verfahren, die ihr Baby während der Schwangerschaft, der Geburt und der Perinatalperiode schützen. Sowohl Paare, bei denen beide Partner infiziert sind, als auch solche, bei denen eine Person HIV-positiv ist, können über Elternschaft nachdenken. Dabei kommen die Methoden der Spermienzentrifugation und der weiblichen Befruchtung zum Einsatz. Bei Paaren, bei denen eine infizierte Person wirksam behandelt wird und eine nicht nachweisbare Viruslast aufweist, wird zunehmend auf die Anwendung der Prä- und Postexpositionsprophylaxe zurückgegriffen (Behandlung, die vor und unmittelbar nach der Virusexposition beginnt; sie verhindert eine Infektion oder ermöglicht die vollständige Ausrottung von HIV, bevor es den Körper erfasst) - Anm. d. Red.).

  • Wenn wir mit einem HIV-Infizierten (Verwandter, Mitbewohner) unter einem Dach leben, haben wir dann Gründe, eine Ansteckung zu befürchten?

I.P .:Es gibt absolut keinen Grund, eine Übertragung zu befürchten. Bei alltäglichen Kontakten, auch von sehr nahen, wie Müttern mit Kindern oder zwischen Geschwistern, besteht nicht die geringste Gefahr. Die Übertragung einer HIV-Infektion erfordert sehr spezifische Bedingungen und kann im Alltag nicht vorkommen.

  • Wo sie könnenHilfe suchen für HIV-Betroffene, die ihre Umwelt nicht bewältigen können, sich von Familie, Freunden, Partner abgelehnt fühlen?

I.P .:Trotz der unverschämt geringen Ausgaben für Prävention und Betreuung von Menschen mit HIV gibt es viele Organisationen, die verschiedene Formen der Hilfe anbieten. Infizierte können von Treffen von Selbsthilfegruppen, Selbsthilfegruppen, Beratungen mit Fachpersonen oder Aufklärungsaktivitäten profitieren. Eines der Beispiele für solche Aktivitäten sind die Treffen „Czas na Zdrowie“, die vom Verein „Be with us“ dank der im Wettbewerb „Positively Open“ vergebenen Mittel organisiert werden. Während der Treffen können Infizierte aus ganz Polen zuverlässige und vollständige Informationen erh alten, die für HIV + -Menschen nützlich sind.

Es gibt viele solcher Programme in Polen, aber ich muss noch einmal betonen, dass die Situation in unserem Land sehr unterschiedlich ist und der Kontakt mit Organisationen manchmal schwierig ist. Es gibt jedoch immer Zugang zu telefonischer Beratung (z. B. AIDS Trust) oder zur Suche nach Informationen auf Websites mit zuverlässigen Nachrichten, z. B. www.leczhiv.pl.

  • Wie sollten HIV-positive Menschen auf Diskriminierung am Arbeitsplatz reagieren? Gibt es Sanktionen für Arbeitgeber, die Menschen entlassen, bei denen HIV diagnostiziert wurde?

I.P .:Es ist schwer zu sagen, wie Infizierte auf Diskriminierung am Arbeitsplatz reagieren sollen. Dies sind Einzelfälle, da die meisten HIV+-Menschen ihre Infektion nicht offenlegen. Eine angemessene Reaktion besteht darin, rechtliche Schritte einzuleiten, da HIV laut Gesetz nicht die Grundlage für eine Ungleichbehandlung am Arbeitsplatz sein kann. Eine solche Strategie beinh altet jedoch die Verbreitung von Informationen über die Tatsache der Infektion. In den meisten Fällen geben HIV-positive Menschen den Kampf auf und versuchen nicht, ihre Rechte zu respektieren, um sich keinen Unannehmlichkeiten auszusetzen. Und Arbeitgeber bleiben straffrei.

  • Bericht 2011 „Menschen, die mit HIV leben. Stigma-Index“ berichtete über Fälle, in denen HIV-Positive in medizinischen Einrichtungen diskriminiert wurden. So wollte beispielsweise ein Gynäkologe die Schwangerschaft einer HIV-infizierten Frau nicht durchführen. Kann der Arzt dafür haftbar gemacht werden?

I.P .:Laut Gesetz darf ein Arzt die Durchführung eines medizinischen Eingriffs wegen einer Infektion nicht ablehnen. Und das tut es normalerweise nicht. Findet andere "Gründe". Auf der AIDS Helpline hatten wir kürzlich einen Fall, in dem uns eine infizierte Person berichtete, dass ein bekanntes privates medizinisches Dienstleistungsnetzwerk sich weigerte, sich einer kleinen Operation zu unterziehen, als sie sagte, sie sei infiziert.Wir haben eine "Provokation" gemacht, indem wir diese Einrichtung angerufen und die gleiche Situation simuliert haben. Auch wir wurden mit einer Absage konfrontiert. Dann haben wir nach einer Rechtsgrundlage gefragt. Innerhalb weniger Minuten rief eine sehr nette Dame mit der Information zurück, dass es keine Kontraindikationen für den Eingriff gebe und entschuldigte sich für die Verwirrung. Es gibt kaum Fälle von offener Ablehnung. Dies geschieht im Stillen unter dem Vorwand des Fehlens geeigneter Geräte oder Ausrüstung.

Laut einem ExpertenIrena Przepiórka

MA in Politikwissenschaft, Absolvent der Universität Warschau. Trainer, zertifizierter Erzieher und HIV/AIDS-Berater. Derzeit am Institut für Onkologiezentrum in Warschau beschäftigt. Seit über 12 Jahren engagiert sie sich im Verein der Freiwilligen gegen Aids „Be with us“ für HIV-infizierte Menschen. Autor und Umsetzer zahlreicher Bildungs-, Präventions- und Unterstützungsprojekte. Derzeit Präsident der „Be with us“ Association.

Wissenswert

Am 6. Mai startet in Warschau die Aufklärungskampagne „Eine Straßenbahn namens Sehnsucht“. Die Kampagne zielt darauf ab, das Bewusstsein für HIV bei jungen Menschen zu schärfen, die am ehesten riskantes Sexualverh alten zeigen. Straßenbahnen namens Lust mit HIV-Aufklärern im Inneren werden an ausgewählten Wochenendabenden mehrere Stunden lang auf Strecken fahren, die die beliebtesten Nachtclubs umfassen. Außer in Warschau werden die Straßenbahnen auf folgenden Straßen verkehren: Kraków, Wrocław, Białystok, Bydgoszcz, Katowice, Szczecin, Poznań, Gdańsk.

Organisator der Aktion ist die International Association of Medical Students IFMSA-Polen. Die Kampagne wird aus einem Stipendium finanziert, das der Verein im Wettbewerb „Positively Open“ erhält.

Weitere Informationen zur Aktion und zum Ablauf finden Sie auf der Fanpage der Aktion "Tram Called Desire" auf Facebook.

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